Forderungskatalog Psychosozialer Stress und Studium

*Dieser Beitrag wurde automatisch übernommen und ist keine Veröffentlichung der LAK Bremen.*

Das abgesprungene Rad

(und warum man nicht versuchen sollte es unbedingt wieder dran zu montieren)

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, welche 2008 in Kraft getreten ist und 2009 von Deutschland ratifiziert wurde, ist ein unabdingbares Menschenrechtsübereinkommen entstanden. Die Konvention bekräftigt nicht nur die allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Behinderung, sondern beinhaltet auch eine Vielzahl an Regelungen, welche sich auf die spezifischen Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung beziehen. Mit der Ratifizierung der Konvention stehen Bund und Länder in der Pflicht, Barrierefreiheit, Mobilität, Bildung, soziale Sicherheit, Gesundheitssorge, Bewusstseinsbildung, Gleichberechtigung sowie Nichtdiskriminierung und Inklusion zu fördern, sodass Menschen mit Behinderung im Bildungssystem und allgemeinen gesellschaftlichen Leben Teilhabe ermöglicht wird. Für den fzs bedeutet dies in Hinblick auf das Studium auch, dass Student*innen durch psychosozialen Stress beeinträchtigt werden können. Um den daraus resultierenden Benachteiligungsformen entgegenzuwirken, bedarf es eines (Bildungs-)Systemwandels, der nicht versucht Individuen „resilienter“ [1] zu machen, sondern die systemischen Ursachen zu bekämpfen! Konkret muss dafür eine Sensibilisierung der Thematik auf Hochschul-, Länder/Bundes- und gesellschaftlicher Ebene geschaffen werden, was nun im Folgenenden auf diesen drei Ebenen erläutert wird.

1. Hochschulebene

1.1 Problembewusstsein stärken!

Der fzs fordert ein Problembewusstsein bei den Hochschulangehörigen über das Thema „psychosozialer Stress“. Insbesondere Hochschulleitungen dürfen in Student*innen nicht nur Zahlen sehen, sondern müssen Studierende endlich als Individuen mit individuellen Problemen (an)erkennen. Eine Sensibilisierung in der Thematik könnte auch durch eine konsequent durchgesetzte Inklusion ermöglicht werden. Ein Anfang kann das Schaffen von barrierefreien Räumen sein, aber eine Hochschule muss auch nicht-physische Hürden erkennen und abbauen. Um das Problembewusstsein zu stärken, braucht es Awareness-Strukturen wie beispielsweise Konfliktpräventionsstellen an Hochschulen, damit alle Gruppen der Hochschule sensibler im Umgang miteinander werden, bzw. die Hochschule menschlicher wird, Emanzipation zulässt und damit sich gesellschaftliche Diversität auch an der Hochschule widerspiegeln kann. Awareness kann gerade auch dadurch entstehen, dass verschiedene Perspektiven durch die an den Hochschulen Gremienaktiven eingebracht und sichtbar gemacht werden. Dazu sollten die Hochschulangehörigen das Engagement der Student*innen (in Hochschulgremien) anerkennen, anstatt sie dabei zu behindern. Auch Studierendenschaften müssen sich kritisch reflektieren und analysieren, wo sie überall psychosozialen Stress selbst (re-)produzieren. Ganz klar müssen sich Studierendenschaften in der Verantwortung sehen, Maßnahmen, wie etwa Empowerment- und Entstigmatisierungsstrategien zu fördern, Einbringungsmöglichkeiten für nicht-hochschulpolitisch aktive Studierende aufzuzeigen und offene Student*innen-Initiativen begrüßen.

1.2 Studierbare Rahmenbedingungen schaffen!

Der fzs fordert Hochschulen dazu auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um Studierende von unnötigen Stressfaktoren zu entlasten. Darunter fallen beispielsweise geregelte, zeitlich begrenzte Prüfungsphasen, damit Studierende auch Mal richtig frei haben! Der fzs fordert zusätzlich unbeschränkte Prüfungsversuche, keine Prüfungsanmeldungen, flexible Prüfungsarten, keine Anwesenheitspflichten für Lernveranstaltungen sowie ein Orientierungssemester, welches Studienanfänger*innen ein Austesten von potentiellen Studieninteressen ohne Leistungszwang ermöglicht. Auch befürwortet der fzs einen lerndialog anstatt des aktuellen Notensystem, sowie eine offene Fehlerkultur, weil ein defizitärer Blick auf unser Lernen unsere Selbstwirksamkeit nicht fördert. Überdies ist eine Ausweitung des Curriculums eine Chance zur Förderung persönlicher Interessen und setzt der einer Verwertungslogik folgenden Leistungsfähigkeit als Ideal die Selbstentfaltung entgegen. Zudem braucht es die Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten und von sicheren Beratungssituationen, wofür es klar ausgewiesene Räumlichkeiten braucht. Außerdem werden generell an allen Hochschulen ausgebildete Beratungsstellen, wie auch durch Fortbildungen geschulte Lehrende und Angestellte der Verwaltung, für Beratungssituationen benötigt. Wir erhoffen uns damit mehr Verständnis für psychosozial gestresste Student*innen und wirklich kompetentes geschultes Personal. Um Wirksamkeit der Angebote für Betroffene zu garantieren, müssen diese Angebote in regelmäßigen Abständen mit den Student*innenvertretungen evaluiert werden. Hochschulen müssen Bürokratie auf das notwendigste reduzieren und Informationen über beispielsweise Beratungsangebote oder Ausgleichsmöglichkeiten zugänglicher machen. Dafür sollten bürokratische Prozesse analysiert werden, um unnötige belastende Formalia für Studierende zu identifizieren. Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation ist eine enge Zusammenarbeit im Trialog der Hochschulen, Studierendenvertretungen und Studierendenwerke.

2. Bund- und Länder Ebene

Betrachtet man die Maßnahmen, die Bund und Länder auf Bildungsebene treffen um Inklusion zu stärken, zeigt sich, dass sich auch hier einiges zu ändern hat. Wenn es um Student*innen geht, wird meist in Zahlen gesprochen. Dabei geht verloren, dass Studierende Menschen sind und als solche Bedürfnisse haben, von denen bei etwaigen Maßnahmen ausgegangen werden muss. Daher richtet der fzs verschiedene Forderungen an Bund und Länder, um Hochschulen und Bildungseinrichtungen teilhabefreundlicher zu gestalten.

2.1 Landeshochschulgesetze

Die Landeshochschulgesetze müssen dahingehend angepasst werden, dass Beratungsstellen für Student*innen mit studienrelevanten Beeinträchtigungen institutionalisiert werden. Studienerschwerende Regelungen, sich auf Student*innen mit psychischen und psycho-somatischen Beeinträchtigungen besonders stark auswirken können, wie beispielhaft Anwesenheitspflichten, Symptomangaben bei Attesten oder Beschränkungen von Prüfungswiederholungen, sind abzuschaffen. Verfasste Studierendenschafften sind bundesweit zu etablieren und in ihrer Beteiligung zu bestärken. Landesstudierendenvertretungen sollten zudem ebenfalls gestärkt werden.

2.2 Staatliche Förderung von Beratungsstellen

Beratungsstellen innerhalb und außerhalb der Hochschulen müssen von den Ländern und vom Bund bedarfsgerecht finanziell ausgestattet werden. Gerade bei der Erarbeitung von Konzepten können Synergieeffekte durch länderübergreifende Zusammenarbeit genutzt werden. Hierbei muss sichergestellt sein, dass Beratungsstellen eine fachgerechte Ausbildung erhalten.

2.3 Grundfinanzierung von Hochschulen

Die staatlichen Zuwendungen an Hochschulen müssen bedarfgerecht anstatt leistungsorientiert berechnet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Bildungssystem unabhängig von wirtschaftlicher Marktlogik funktioniert. Denn gerade Beratungsangebote werden oft wegrationalisiert, wenn Hochschulen Einsparpotenziale ermitteln. Gerade diese sind aber notwendig, um den Stress zu reduzieren, der unter anderem durch überfrachtete Curricula und Lerninhalte verursacht wird.

2.4. Grundfinanzierung der Studierendenwerke

Die Studierendenwerke müssen ebenfalls bedarfsgerecht finanziert sein. Sie leisten bei der Ermöglichung von Teilhabe durch Kulturprogramme, barrierearme Wohnmöglichkeiten u.Ä., sowie bei der Beratung und Hilfe von Studierenden mit Beeinträchtigung einen wichtigen Beitrag.

2.5 Stigmatisierung bekämpfen

Beeinträchtigung, gerade auch psychosoziale Beeinträchtigungen welche von Teilen der Gesellschaft noch immer nicht ernst genommen werden, sind als solche anzuerkennen. Es darf nicht sein, dass beispielsweise Lehramtsstudierende keine ärztliche Beratung nutzen können, da ihnen ansonsten droht, dass sie später einmal nicht verbeamtet werden. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die studieren, als „faul“ oder „teuer“ ist in diesem Zuge zu bekämpfen. Studieren ist, wie jede andere Tätigkeit, Arbeit und als solche zu würdigen. Durch auf Länder- und Bundesebene geförderte Awareness-Kampagnen und andere Maßnahmen ist ein gesellschaftlichen Umdenken anzustreben.

2.6 Finanzielle Sicherung

Studierende müssen finanziell abgesichert sein. Gerade Student*innen mit Beeinträchtigung benötigen oft mehr als die Regelstudienzeit. Staatliche Förderungen wie das BAföG müssen so gestaltet sein, dass Studierende mit Beeinträchtigung nicht durch die mit ihrem Alltag inkompatiblen Regelungen im Studium gehindert werden. An dieser Stelle setzen auch Überlegungen wie ein Grundeinkommen an.

2.7 Krankenversicherung

Um allen Studierenden mit Beeinträchtigungn sowie generell allen Menschen mit Beeinträchtigung eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, sollte das bestehende Zwei-Klassen-System aus privater und öffentlicher Versicherung durch eine staatliche und solidarische Krankenversicherung abgelöst werden. Termine bei Psycholog*innen/Psychotherapeut*innen müssen eine kurze Wartezeit haben und kostenlos sein, das psychosozialer Stress oft akut auftritt und Hilfe umgehend erforderlich ist.

2.8 Schulische Bildung

Aufklärung und Hilfsangebote müssen schon in den Schulen ansetzen. Dabei muss gewährleistet sein, dass Aufklärung und Informationen nicht mehr nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Raum stattfinden, damit alle Schüler*innen erreicht werden können und auf das Leben nach der Schule ausreichend vorbereitet sind. Teil einer guten Lehrer*innenausbildung muss auch sein, dass diese in der Lage sind Warnzeichen von psychosozialen Stress bei Schüler*innen zu erkennen und helfend tätig werden können.

3 Gesellschaftliche Ebene

Neben konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabegerechtigkeit der Hochschulen sowie durch Bund und Länder, ist auch die Betrachtung des Bildungssystems an sich wichtig. Um ein adäquates Bild der Realsituation von Studierenden in der BRD abzubilden, ist es in einem ersten Schritt notwendig, mehr Studien durchzuführen, die das aktuelle Bildungssystem als solches analysieren. In einem zweiten Schritt kann dadurch aufgezeigt werden, welche Hürden Studierende in einer inklusiven Teilhabe in Bildungsprozessen beeinträchtigen. Da Bildung nach Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechter der Vereinten Nationen ein Menschenrecht ist, muss die Politik auch Strukturen dafür schaffen, dass alle Menschen, unabhängig ihrer sozio-ökonomischen Herkunft und ihren (psychosozialen) Beeinträchtigungen im Bildungssystem partizipieren können. Doch gerade die Reformen auf Basis des Bologna-Prozesses bewirken oft das Gegenteil.